Laut gedacht
Beurteilen oder Begleiten
„Jeden Tag ging er zum Hof des Frauenpalastes, um zu erfahren, wie es Ester ging.“ Mordechai – Ziehvater eines wunderschönen jüdischen Mädchens namens Ester in einem persischen Casting mit der Königskrone als Hauptgewinn. Er hätte sie als Jüdin outen können und sie wäre draußen gewesen. Warum er das hätte tun sollen? Dafür hätte es tausend gute Gründe gegeben. Die Eintrittskarte in den Palast war das außergewöhnlich gute Aussehen und explizit Esters Figur. Es war Vorgabe, für eine Nacht zur „Begutachtung“ zum König hinein zu gehen. Es muss nicht einfach gewesen sein, die Balance zwischen dem Streben nach dieser unglaublichen Chance und den Geboten Gottes zu bewahren.
Und während Mordechai an dieser Stelle der Geschichte wie ein kompromissbereiter alter Mann wirkt, der seine Ziehtochter zum „Beinahe-Lügen“ anstachelt („Sag niemandem, dass du eine Jüdin bist“), damit sie das Rennen macht, ist er Monate später in seiner Kommunikation ihr gegenüber erschreckend unverblümt. An einem Punkt, an dem nicht mehr nur ihr potentieller Rauswurf auf dem Spiel steht, sondern ihr ganzes Leben, sagt er zu ihr: „Wer weiß, ob es nicht für eine Zeit wie diese ist, dass du zur königlichen Würde gelangt bist?“ und schlägt ihr damit vor, das Gesetz zu brechen, demnach in Kauf zu nehmen, getötet zu werden mit dem Ziel, eine Stimme für ihr Volk zu sein und dessen Rettung zu erwirken.
In der Zeit bevor Ester Königin wurde und in der sie monatelang mit königlichen Schönheitsbehandlungen auf die Nacht mit dem König vorbereitet wurde, ließ Mordechai nicht zu, dass sie dort allein war. Er kreuzte nicht erstmals wieder auf, als er ihr vorschlug ungefragt zum König zu gehen und damit ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Er war da – jeden Tag! „Jeden Tag ging Mordechai zum Hof des Frauenpalastes, um zu erfahren, wie es Ester ging.“ Er begleitete sie. Er legte Wert darauf zu erfahren, wie es ihr ging. Er gab ihr seinen weisen Rat – nämlich auch als Königin nichts über ihre Herkunft zu verraten, was in unseren Augen nach einem faulen Kompromiss aussieht. Doch er scheute die Konfrontation nicht, als es darum ging, dass Ester dem Ruf Gottes nachkam.
Wir wären am Ende von Kapitel 3 auf die Barrikaden gegangen. Wir hätten das Mädchen dem Untergang geweiht. Lügen, unmoralisches Verhalten, Körperkult… das alles liefert ausreichend Stoff, um sie abzustempeln. Doch der Mensch sieht nur, was vor Augen ist. Tatsache ist, dass auf der Basis dieser dauerhaften, sich kümmernden Beziehung zwischen Ester und Mordechai, er letztlich die Autorität hatte, ihr einen unglaublich waghalsigen Vorschlag zu unterbreiten, den sie nicht ausschlug.
Wie gehen wir mit Menschen um, deren Lebenssituation wir mit unseren Augen als unmoralisch, verlogen oder auf Oberflächlichkeiten reduziert, beurteilen? Begleiten wir? Ermutigen wir? Wie tun wir uns mit Menschen, die in der Politik oder der Geschäftswelt sind – einem Terrain, das uns fremd ist und uns nicht koscher erscheint? Grenzen wir uns ab oder fragen wir nach? Verurteilen wir oder begleiten wir? Was ist uns wichtiger – unsere Beziehung oder unsere rechthaberische Rechtschaffenheit?
Wie gehen wir mit unseren Kindern um, wenn ihre Wege sie an Orte bringen, die wir mit unseren christlichen Moralvorstellungen schwer in Einklang bringen können? Sind wir präsent, um zu erfahren, wie es ihnen geht oder gehen wir auf Distanz? Limitieren wir die Chancen für sie, weil wir ohnehin zu wissen glauben, was gut und schlecht für ihre Zukunft ist oder helfen wir ihnen, alles in Anspruch nehmen zu können, das Gott für sie vorbereitet hat – auch wenn wir das Leben anders leben würden? Machen wir uns die Mühe, uns jeden Tag zu kümmern oder scheuen wir den Weg in Sphären, in denen wir uns nicht wohl fühlen?
In Zeiten, in denen es wirklich relevant ist, werden wir nur dann eine Stimme im Leben von Menschen sein können, wenn diese in einer Beziehung und einer echten Fürsorge gebettet ist und wenn wir es schaffen, größer zu sein als der Ruf, den es augenscheinlich zu verlieren gilt.